2Mai
2006

Landung (30 days 2)


Es gibt kaum Wolken, daher kann ich meinen Fensterplatz in vollen Zügen genießen. Gebannt schaue ich durch das kleine Guckloch und versuche die Landschaft, die unter mir vorbeizieht, in Einklang mit den Landkarten zu bringen, die in meinem Kopf abgelegt sind. Ich erkenne Gießen und Marburg, aber danach gelingt es mir nicht mehr Orte zu identifizieren. Es dauert nicht lange, da zeichnet sich eine Küstenlinie ab und schon liegt das europäische Festland hinter mir. Die nächste Küste naht und dahinter ist ein riesiger grauer Fleck, aus dem winzige Rauchwölkchen aufsteigen, zu sehen. Der Fleck wird größer und größer, ein Geflecht von Linie durchzieht ihn, in der Mitte teilt ihn ein breites geschwungenes Band, die graue Fläche löst sich auf zu kleinen Quadern, die langsam zu Gebäuden mutieren und das teilende Band wird zu einem Fluss, auf dem winzige Schiffe schwimmen. London.

Die Hand einer Stewardess legt sich auf meine Schulter und deutet mir, den Tisch aus der Rückenlehne meines Vordersitzes aufzuklappen. Essensausgabe. „You prefer chicken or pork“, fragt sie mich. Ich entscheide mich für die als Huhn bezeichnete Speise. Das Gemurmel der ein paar Reihen vor mir sitzenden Reisegruppe hat sich deutlich verstärkt. Offensichtlich findet eine lebhafte Diskussion über die Qualität des Essens statt. Ich lasse mir einen Weißwein reichen, esse mein auf der Speisekarte als „Hühnerbrust an zartem Gemüse mit Ofenkartoffel“ ausgewiesenes Mittagessen. Ich esse auch die Süßspeise, die mehr süß als Speise ist. Beim Blick aus dem Fenster sehe ich, dass wir mittlerweile über dem Atlantik schweben.

Kurz nach der Mahlzeit bittet das Bordpersonal, die Fenster zu verdunkeln. Dies ist ein Tagflug. Vancouver ist Frankfurt acht Stunden hinterher. Wir sind Mittags gestartet und werden nach fast zwölf Stunden Flug mit Zwischenstop in Edmonton am Nachmittag in der kanadischen Westküstenmetropole landen. Ein ziemlicher langer Tag ist das also heute. Mit der Hoffnung, während des Fluges etwas schlafen zu können, bin ich heute schon um Fünf aufgestanden, um in Vancouver gut bis zum Abend durchzuhalten und damit das Jetlag schnell auszupendeln. Es gelingt mir tatsächlich etwas einzudösen.

Als ich wieder aufwache, sind drei Stunden vergangen. Vor den Bordtoiletten haben sich kleine Schlangen gebildet. Ich schiebe den Sichtschutz des Fensters ein kleines Stück nach oben, um hinauszuschauen. Grelles Licht fällt hinein. Einen Moment brauchen meine Augen, um sich daran zu gewöhnen. Tief unter uns erstreckt sich eine bizarre Landschaft. Bräunliche Felswände, die von dickem Eis eingepackt sind, sind zu erkennen. Grönland. Der Anblick aus 10.000 Meter Höhe ist fantastisch. Gebannt verfolge ich die kleinen Variationen dieser scheinbar unendlich weiten Landschaft. Irgendwann ist nur noch eine monotone weißgraue Eisfläche zu sehen.

Plötzlich habe ich das Gefühl, dass wir uns im Sinkflug befinden. Das Bordpersonal macht einen etwas unruhigen Eindruck. Es flüstert miteinander und scheint sehr darauf bedacht, dass die Passagiere das nicht mitbekommen. Das Anschnallzeichen erklingt. Die Flugbegleiter gehen die Gänge auf und ab, künden eine wichtige Durchsage des Kapitäns an und ermahnen sehr energisch, die Plätze nicht zu verlassen.

Der Film, der auf der Leinwand im Mittelgang zu sehen ist, wird abgeschaltet. Die Lautsprecheranlage knackt laut. Das Räuspern einer männlichen Stimme hallt durch das Flugzeug. „Sehr geehrte Damen und Herren, hier spricht ihr Kapitän, ich bitte sie um ihre Aufmerksamkeit. Aufgrund eines Computerproblems müssen wir unsere Flugroute ändern. Statt in Edmonton werden wir unseren Zwischenstopp in dem etwas nördlicher gelegenen Inuvik einlegen.“ Die Stimme des Kapitäns ist ruhig und sachlich. Er betont, dass wir nicht entführt worden seien und dass das Flugzeug in einem technisch einwandfreien Zustand ist und daher dieser Stopp keine Notlandung ist. Er erläutert, dass dem Navigationssystem falsche Daten eingespielt wurden und wir uns daher auf einer wesentlich nördlicheren Route als geplant sind, weshalb der Treibstoff nicht bis Edmonton reicht. Nach der Ansage ist es sehr ruhig im Flugzeug. Fünf Minuten meldet sich der Kapitän erneut. Er unterstreicht nochmals, dass kein Grund zur Beunruhigung besteht, dass das Flugzeug keine technischen Probleme hat und dass es nicht entführt ist.

Inuvik, der Name dieses Ortes kommt mir bekannt vor. Ich habe das Gefühl, „etwas nördlicher“ bedeutet in diesem Fall ein paar Tausend Kilometer nördlicher. Langsam wird das Kabineninnere wieder durch gleichmäßiges Murmeln gefüllt. Laut vernehme ich von hinten eine tiefe Stimme, dass dies ein juristisches Nachspiel haben wird. „Det is jo midden in de Arcktisch“, vernehme ich es rechter Hand. Ich schaue hinüber und sehe eine Frau, die ungläubig in ihrem Reiseführer blättert. „Kenne Sorgsche, Schatsch, Kanada is doch a wästlesches Land“, bemerkt der Mann neben ihr mit leicht angespannter Stimme. Der Bass hinter mir beweist ein ausgesprochen ausgeprägtes Rhythmusgefühl, indem er in äquidistanten Abständen die Ankündigung der juristischen Folgen wiederholt.

In der folgenden Stunde ist die Anspannung im Flugzeug deutlich zu spüren. Da wir aber sehr ruhig dahin gleiten und die Kabinencrew eine bemerkenswerte Freundlichkeit bewahrt, kommt es zu keinen wirklichen Turbulenzen unter den Passagieren. Hier und da wird sogar etwas sarkastisch gescherzt. Wir haben mittlerweile deutlich an Höhe verloren und fliegen über eine schier grenzenlose Permafrostlandschaft. Die Stimme des Kaptitäns ertönt erneut und kündigt die Landung an. Ich versuche, eine Ansiedlung zu entdecken, ohne Erfolg. Die Landung ist ganz sanft. Klatschen und Ausatmen ertönen. Langsam rollt das Flugzeug nun durch die weißgräuliche, unwirtliche Landschaft. Dann sehe ich ein Stahlgerüst, was offensichtlich der Tower des hiesigen Flughafens ist. Daneben befinden sich drei einsame Wellblechbaracken.

Ich bin noch keinen halben Tag unterwegs, hatte mich spontan zu einer Weltreise überreden lassen, wollte von Frankfurt, wo endlich der Frühling ausgebrochen war, zunächst nach Vancouver, wo laut Wetterbericht auch der Frühling Einzug hält, um mich von dort ausgehend Richtung Süden weiter aufzuwärmen. Und jetzt sitze ich im Permafrost. Ich kann den Gedanken nicht abschütteln, dass hier gerade etwas schief gelaufen ist.

Abflug (30 days 1)


Die Rolltreppe rollt nach oben und ich rolle mit ihr. The sound of silence erklingt in meinen Ohren, Dustin Hofmann rollt vor meinen Augen in die Reifeprüfung hinein. Eine geradezu ritualisierte Assoziation, die mich an diesem Ort wie programmiert regelmäßig erfasst. Der Ort bietet keine Silence, ich habe mit Dustin Hofmann wohl nicht allzu viel gemein und eine Reifeprüfung steht mir auch nicht bevor. Die Rolltreppe führt vom Tiefbahnhof in die Schalterhalle B des Frankfurter Flughafens. Es ist Dienstag und es ist voll wie immer, daher spielt es keine Rolle, dass heute Dienstag ist. Tausende von Menschen aller Herren Länder rennen kreuz und quer und versuchen sich durch Ansagen beschallt zu orientieren, um mit hunderten von Flügen irgendwo auf der Welt in einer ähnlichen Szenerie zu landen.

Die folgenden zweieinhalb Stunden werden ähnlich nach bekannten Mustern verlaufen. Das beginnt mit dieser nun aufkommenden leichten Hektik in mir, da ich schnell zum Checkin Schalter will, um möglichst einen Fensterplatz zu bekommen. Die Hektik wird durch mein Gepäck gefördert. Im großen Rucksack stecken das Kuppelzelt und der Sturmkocher, das macht mindestens vier Kilo mehr im Vergleich zum Standardgepäck aus, die ich auf den Schultern deutlich spüre. Aber Svashtara meinte, ich sollte jetzt spontan 30 Tage auf Tour gehen und daher habe ich mich für das Expeditionsgepäck entschieden. Die Schnüren des zweiten Rucksacks, der mir als Handgepäck dient, baumeln mir zwischen den Beinen, was mich genauso nervt, wie die das ältere Paar vor mir, was mir innerhalb von zwei Minuten dreimal ihren Gepäckwagen vor meine Füße schiebt. Kurz orientiere ich mich an der Übersichtstafel, wo mein Schalter zum Einchecken ist. Erwartungsgemäß muss ich hinüber zu Terminal 2. Auch die Fahrt mit den Skytrain verläuft nach einem bekannten Muster. Es gibt immer Passagiere, die aus irgendeinem Grund beim Einsteigen oder Verlassen Probleme haben und für einen Moment die Tür blockieren. Die Schlange am Checkin ist kürzer als befürchtet. Die Hektik in mir nimmt wieder ab. Eine viertel Stunde später halte ich den Boardingpass in der Hand, der mir einen Fensterplatz bestätigt. Ich bin zufrieden. Der große Rucksack hat sich in die Katakomben der Gepäckbänder begeben und ich habe jetzt noch knappe zwei Stunden bis zum Abflug zu überbrücken.

Ich schlendere durch die große Halle, bleibe für ein paar Minuten an zwei oder drei Auslagen stehen, um sie zu betrachten. Fünf Minuten später habe ich schon wieder vergessen, was ich da betrachtet habe. Ich habe noch vier Zigaretten einstecken. Auf Reisen rauche ich nicht, aber die Reise hat noch nicht begonnen, also begebe ich mich in eine Raucherzone, zünde mir eine an und rauche im Bewusstsein, nur noch drei zu haben, sehr langsam.

Ich gehe nie zu Mac Donalds, aber auf Fraport gehe ich immer zu Mac Donalds und um auch diesen Ritus einzuhalten, gehe ich zu Mac Donalds. Der obere Bereich des Terminals, wo der Fastfoodgigant residiert, ist von der Geräuschskulisse des Bällchenbades gefüllt. Das Flughafen Mac Donalds ist ein beliebtes Ausflugsziel, regelmäßig werden dort ganze Kindergeburtstag abgehalten. Auch ich fahre mit Kinderbesuch mitunter hier hin. Ich stelle mich in eine der sechs oder sieben Reihen an, die erstaunlich schnell bedient werden. Meine Wahl fällt auf eines, der auf bunten Tafeln angepriesenen Menüs, ich ordere ein Wasser zusätzlich, kann der Bedienung jedoch nicht vermitteln, dass ich das zum Menü gehörende Spielzeug nicht benötige und schenke daher die Plastikteile, dem Kind, das hinter mir steht. Ich finde einen freien Platz an der großen Fensterfront, schau dem Geschehen auf dem Rollfeld etwas zu, esse meinen Burger und meine Pommes mit den Fingern, ziellos wandert zwischendurch mein Blick durch die Reihen der anderen Besucher und bleibt kurz bei zwei Frauen hängen, wahrscheinlich Mutter und Tochter, die in ihrer sehr ähnlichen Attraktivität ein schönes Bild abgeben. Im nächsten Moment bindet das laute Kreischen einer anderen Mutter meine Aufmerksamkeit, die wiederholt ein Mädchen im Vorschulalter anschreit, sie möge „ihren beschissen Burger auffressen“.

Nach einer halben Stunde verlasse ich Mac Donalds, rauche die zweite Zigarette und begebe mich durch die Passkontrolle zu den Gates. Die Uhr sagt, dass immer noch fast eine Stunde Zeit bis zum Abflug ist. Das Zeittotschlagprogramm wird fortgesetzt. Zwei Dutyfreeshops, ein Zeitschriftenladen und eine weitere Raucherzone beschäftigen mich für weitere 30 Minuten, danach begebe ich mich in den Wartebereich des Gates, der schon halb gefüllt ist. Mir gegenüber sitzt ein Pärchen, beide etwa Mitte Zwanzig. Sie blättert in einem Kanada-Reiseführer, er hat ein Laptop auf seinen Oberschenkeln postiert und bearbeitet die Tastatur mit starren Blick energisch. In der Zeit bis zum Boarding versucht sie mindestens fünfmal ihn anzusprechen, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, er reagiert praktisch gar nicht, tippt weiter mit unverändert starren Blick auf das Laptopdisplay, auch als sie ihren Arm auf seine Schultern legt. Ihr nettes Gesicht wird immer finsterer. Ich glaube, die werden einen tollen Urlaub haben. Eine große Reisegruppe hat sich eingefunden und belagert ihre Reiseleiterin. Parallel wird sie offensichtlich mit vier oder fünf Fragen gleichzeitig bombardiert. Die Uhr zeigt nun die offizielle Boardingzeit an, was prompt zu einer Rudelbildung am Ausgang führt, obwohl noch kein Aufruf erfolgt ist. Ich verlasse den Wartebereich, um die Toilette aufzusuchen und die letzte Zigarette zu rauchen. Kurz nach mir findet sich die Reiseleiterin in der Raucherzone ein. Sichtbar genervt steckt sie sich hastig eine Zigarette an und inhaliert tief. Kurz treffen sich unsere Blicke, ich versuche sie anzulächeln, sie lächelt zurück. Jetzt ertönt die Ansage, dass mit dem Boarding meines Fluges nach Vancouver begonnen wird.

Eine halbe Stunde später rolle ich vorbei an Terminal 1, den langen Lufthansafinger, der großen Wartungshalle und den Tankanlagen zur Startbahn West. Nach einem kleinen Stopp heulen die Turbinen auf, die Boing beschleunigt, ich bin auf das Fenster fixiert, sehe wie wir über den Wald abheben, suche bekannte Punkte am Boden, erkenne die Autobahn und Darmstadt. Die Maschine setzt zu einer weiten Linkskurve an und ändert ihre Richtung um 180 Grad nach Norden. Die Reise hat begonnen.

1Mai
2006

Willkommen

…, Willkommen, in unserer Welt, schmettert es zum Auftakt von der Bühne und nach fast zweieinhalb Stunden sind am Ende die Schlampen wieder müde.
rstolz
Alle oder alle zwei Jahre wieder kommen AnNa und Peter mit Band vorbei und füllen die Halle. Das typische Alter der Fans erstreckt sich bei der 15-jährigen Jubiläumstour mittlerweile von Sechzehn bis Sechzig und vom ersten Takt an wird getanzt, mitgeklatscht und mitgesungen. Die Stimmung ist einfach Klasse und lässt die etwas gesetzte Architektur der akustisch hervorragenden Jahrhunderthalle vollkommen im Hintergrund verschwinden. Ich bilde mir ein, dass Programm ist diesmal noch besser als bei der letzten Tour, da die Mischung aus neuen Songs und den Rosenstolz Klassikern geschickter verwoben ist und AnNa diesmal - noch nicht – heiser ist. Beschwingt vom Lächeln, der Königin, dem Moment und dem ganzen großen Leben denke ich auf dem Heimweg, dass das nächste Mal gern schon morgen sein könnte und freue mich, dass am nächsten Wochenende Silbermond auf dem Programm steht.

30Apr
2006

Sonntagsarbeit

Die Stapel haben sich ordentlich aufgestapelt. Die Vorliebe Probe-, Urlaubs- und Saisonabonnements zu ordern, hinterlässt nicht zu übersehene Spuren in der Behausung. Auch das Bücherbord mit den noch nicht gelesenen Neuerwerbungen hat wieder deutlich Zuwachs bekommen. Da kommt ein verlängertes Wochenende gerade richtig. Und da sich das Wetter nicht so optimiert wie gewünscht präsentiert, bekommt das angehäufte Zeitgeschehen endlich die benötigte Aufmerksamkeit.
Sonntagsarbeit
So konsumiere ich ausgiebig Geschriebenes über Indien, China, Italien, Energieeffizienz, Volkswagen, Logik, Mafia, Heuschrecken und die Es Pe De sowieso, freue mich, dabei im Gedrucktem eigene Gedanken wieder zu finden, auf alte Erinnerungen zu stoßen oder auch neue Themen zu finden. Es zeichnen journalistische Moden ab. Natürlich schreiben alle über Tschernobyl und Freud und für den Anfang einer neuen Serie ist so ein Jubiläum sowieso geeignet, auch wenn die Serie gar nicht so neu ist, weil es vor zehn Jahren einen vergleichbaren Vorläufer gab. Nächstes Jahr jubilieren wir 30 Jahre den deutschen Herbst und ich sehe jetzt schon Hans Martin Schleyer, Helmut Schmidt und Ulrike Meinhof auf den Titelseiten einschlägiger Wochenzeitschriften (wahrscheinlich gesellt sich auch Uschi Obermeier dazu, da ihr Bild gemeinhin als Auflagensteigender eingestuft wird als der Anblick der Meinhof). On vogue ist eindeutig emotionale Intelligenz. Ob der Spiegel, die Zeit, Psychologie heute oder verschiedene Weiterbildungsmagazine binnen weniger Monate greifen alle das Thema auf, was Déjà-vu-Effekte beim Lesen auslöst.

Als niedergeschriebener Leckerbissen erweist sich Heike Fallers Geschichte über die Friseurin Ayfer. Ich mag, wenn das, was wir mit geöffneten Augen an jeder Ecken treffen können, was im schillernden Medienspektrum normalerweise keine Beachtung findet und das doch so viel mehr besonders ist, als das neuste Outfit eines Vorabendseriensternchens, gewürdigt wird. Und ich mag, wenn ein Zeitungsartikel auch eine schön geschriebene Geschichte ist. Und weil ich das Beides mag, ist am Abend der Stapel in wesentlichen Teilen in die Altpapierkiste verlagert, aber Heike Fallers Besuche bei Ayfer haben in eine meiner „das muss ich unbedingt Aufheben“ Ablagen eine Herberge gefunden.

19Apr
2006

Ortswechsel

Pollenschin heißt heute Połęczyn, sowie Karthaus heute Kartuzy und Danzig heute Gdańska heißt. Pollenschin liegt ein paar Kilometer südlich von Karthaus und Karthaus findet man 30 Kilometer westlich von Danzig. Westpreußen ist der Namen dieser Region, deren Zugehörigkeit zu Polen und zu Deutschland im Laufe der Geschichte öfters wechselte.

In Pollenschin wurde 1905 ein Mann namens Ernst geboren, der die Eigenschaft hat, Vater meines Vaters und damit mein Großvater zu sein. Ernst war der Älteste unter neun Geschwistern. Seine Eltern waren Bauern und besaßen einen Hof, der die Familie wahrscheinlich eher schlecht als gut ernährte. Ernst ging nicht zur Schule, er arbeitete stattdessen schon im Schulalter auf dem Hof und musste schon in jungen Jahren zusammen mit seinen Brüdern die Arbeitskraft seines früh gestorbenen Vaters ersetzen.

Ich habe an Ernst lediglich ein paar schemenhafte Erinnerungen. Das war der Mann, der mein Opa genannt wurde, den wir sehr selten besuchten, der bei diesen Besuchen mir Magnete vorführte, die er aus dem Radio oder dem Fernseher ausgebaut hatte und dessen Aussehen dank Schnauzer und Scheitel deutlich an Adolf Hitler erinnerte. Ernst war ein Mann, der über handwerkliches Geschick verfügte, darüber hinaus sich - diplomatisch formuliert – durch sein schlichtes Gemüt charakterisierte, weniger diplomatisch ist die Beschreibung meines Onkels, der ihn dumm und versoffen nennt.

Ernst heiratete vermutlich 1930 Berta aus Patull, einem Nachbardorf von Pollenschin. Ein Jahr später wurde Gerd, der erste Sohn, geboren. Es folgten zwei Töchter, eine von ihnen wurde 1945 beim Spielen von einer gefundenen Handgranate getötet. Mein 1942 geborener Vater war der Jüngste der vier Kinder.

Ernst wurde während des Russlandsfeldzuges eingezogen, hatte aber das Glück für die Nachschubüberwachung eingeteilt zu sein und nicht an die vorderste Frontlinie im Osten zu müssen. Daher gelang es ihm, Tod und Kriegsgefangenschaft zu entkommen. Berta bestellte fortan den Hof allein. Gerd, als ältester Sohn, war neben einem polnischen Jugendlichen aus der Nachbarschaft die einzige männliche Arbeitskraft. Zur Unterstützung wurde dem Hof noch eine aus der Ukraine verschleppte junge Frau zugewiesen.

Der Krieg endete mit dem Einrollen russischer Panzer in Pollenschin Anfang 1945. „Das deutsche Militär lief ohne Gegenwehr davon und wurde praktisch auf der Flucht erschossen. Die Felder lagen voll von toten Soldaten, toten Pferden, Pferdewagen, Waffen, Munition, usw.“, so beschreibt mein Onkel die Szenerie. Die Grausamkeit, die zuvor von den deutschen Truppen in ganz Osteuropa verbreitet wurden war, kehrte sich nun der deutschen Bevölkerung zu.

Der Hof wurde von blutjungen mongolischen Rotarmisten besetzt. Was verwertbar war, wurde verwertet und als Nachschub den jetzt westwärts ziehenden russischen Truppen gebracht. Der dreizehnjährige Gerd und die gleichaltrigen Jungens des Dorfes mussten den ganzen Tag das verbleibende Vieh zusammentreiben, bis sie nicht mehr konnten. Sie waren noch jung genug, um nicht erschossen zu werden. Berta und ihre Kinder hatten gerade genug zu essen, um nicht zu verhungern und das war wirklich viel in diesen Monaten.

Wenige Monate nach dem offiziellen Ende des Krieges wurde der Hof einem allein stehenden Polen übereignet. Der verkauft das letzte verbliebene Getreide in Danzig und war nachdem es nichts mehr zu verkaufen gab, ebenso schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war. Berta und ihre Kinder wurden noch einige Wochen im Dorf als Arbeitskräfte eines Großbauern geduldet, was ihnen ausreichend Nahrung verschaffte. Dann erhielten sie von den neuen polnischen Behörden den Bescheid, dass sie ausgewiesen sind und umgehend das Land zu verlassen haben. Mitgenommen werden durfte, was getragen werden konnte.

Alle überlebenden Deutschen des Umkreises wurden nach Danzig zu dem Legetor-Bahnhof gebracht. Einige Tage warteten sie dort in Personenwagons auf ihren Transport Richtung Westen. Geschlafen wurde abwechselnd auf den Bänken oder den Fußboden. Die verbliebenen Habseligkeiten wurden in Nahrung eingetauscht. Die einzige kleinkindliche Erinnerung meines Vaters ist, dass ihnen in den Tagen, die sie in den Wagons verbracht haben, ein Brot gestohlen wurde. Plastisch kann er den Korb schildern, in dem das Brot lag und die Aufregung, die sich ausbreitete, als der Diebstahl entdeckt wurde.

Der Zug brachte die Familie zunächst nach Binz auf Rügen. Sie wurden dort mit anderen Ausgewiesenen in ein Hotel einquartiert, das als notdürftiges Sammellager diente. Zu Essen gab es Tag für Tag lediglich Steckrüben mit Wasser und etwas Brot. Gerd arbeitete in der Küche und bekam als Lohn eine zusätzliche Scheibe Brot. Bei dieser Arbeit erfuhr er, dass sich Familien, die Verwandte im Westen Deutschlands haben, bei der Lagerleitung melden sollten, damit sie zu denen gebracht werden können. Gerd erinnerte sich an eine Tante, die im Ruhrgebiet lebte und überredete seine Mutter sich deshalb auch zu melden. Daher wurde Berta mit ihren drei Kindern erneut in einen Zug gesetzt, der jedoch nie das Ruhrgebiet erreichte, sondern im südniedersächsischen Sammellager Friedland endete.

Nach diesem mehrtägigen Transport waren alle durch den Hunger krank und vollkommen erschöpft. Mein damals dreijähriger Vater war besonders mitgenommen. Man brachte ihn aus dem Lager in ein nahe gelegenes Krankenhaus und dort erholte er sich sicherlich nicht zu letzt Dank seiner kräftigen Grundkonstitution. Die Versorgung der Überlebenden in der britischen und amerikanischen Zone war deutlich besser als zuvor in den östlichen Gebieten.

Die Neuankömmlinge wurden im Lager vom Roten Kreuz mit Kleidung und Nahrung versorgt. Nachdem sie nach ein paar Wochen durch regelmäßige Speisen etwas gekräftigt waren, wurden sie in den umliegenden Dörfern angesiedelt. Auf Pferdekarren wurde sie zu ihrem neuen Zuhause gebracht. Willkommen waren sie da nicht. Die alten Bewohner nahmen die Flüchtlinge nur missmutig zur Kenntnis und akzeptierten die neuen Nachbarn nie.

Ernst schlug sich in dieser Zeit allein nach Westen durch. Entlang der Ostseeküste schaffte er es zum Teil mit einem selbstgebauten Floß bis nach Schleswig Holstein. Über den Suchdienst des Roten Kreuzes fand er seine Familie wieder. Später fand er Arbeit als Betriebsmaurer im nahe gelegenen Kassel. Berta arbeitete hin und wieder bei den Kleinbauern der Region, um die stets - nicht zu letzt wegen Ernsts Hang zum Alkohol - knappe Familienkasse etwas aufzubessern.

17Apr
2006

Endlich …

… findet das Auge auf seinen Streifzügen das …
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… wonach es seit Wochen giert. Spät, kommen in diesem Jahr diese Anblicke, die jedes Jahr für kleine, aber feine Glücksmomente sorgen.
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...so sieht's aus. Ein paar Bilder aus'm Schlachthof...
heldentenor - 16. Sep, 17:43
ich glaube, dies ist...
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rosmarin - 31. Jul, 19:52
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rosmarin - 23. Jul, 01:05
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