8Mai
2006

Ein Konzertabend

„Du bist eine Ausnahme unter den Männern“, sagt das Reh grinsend. Ich werde stutzig, was kommt denn nun? Sicherlich habe ich nichts dagegen eine Ausnahme sein, im Allgemeinen bin ich lieber Ausnahme als Massenware, aber dieses freche Lächeln verrät, dass sie ein wenig provozieren will. „Wieso?“ „Im Spiegel steht, dass sich normaler Weise Männer dümmere Frauen suchen.“, erläutert sie süffisant. „Aha, und Du bist mir geistig also hoch überlegen?“ „Ich komme jedenfalls nicht auf die bescheuerte Idee, Tickets für Konzerte zu kaufen, bei denen ich den Alterspräsidenten abgebe.“

Wir sind gerade auf dem Weg zum Konzert von Silbermond. Sachlich erkläre ich, dass Silbermond eine ordentliche Rockmusik macht, bodenständig und zeitlos, dass die Sängerin eine gute Stimme hat und dass das Rosenstolz Konzert letzte Woche auch eine generationsübergreifende Veranstaltung gewesen sei. Dann stelle ich meine sachlichen Ausführungen ein, da wir in diesem Moment die Kolonnen von Jugendlichen erblicken, die vor der Halle anstehen. Sie grinst, ich grunze. Wir ziehen an der langen Schlange vorbei, um das Ende zu erreichen. „Da ist noch einer mit grauen Haaren“, stichelt sie weiter. „Da oben auf Deiner Matte sind auch eindeutig graue Haare“, pariere ich. „Die habe ich von Dir!“ Tatsächlich ist festzustellen, dass der Anteil von Ü30 oder gar Ü40 bei dieser Veranstaltung doch eher niedrig ausfällt und die Hälfte der Dazugehörigen offensichtlich die Begleitung zwölfjähriger oder noch jüngerer Mädchen sind.

Nach 25 Minuten Anstellen sind wir in der Halle. Das Reh stellt sich in die obligatorische Reihe vor den Damenklo, ich kaufe Getränke. Als sie wiederkommt erzählt sie, dass sie normaler Weise zu den kleineren Frauen auf dem Klo gehöre, dies aber heute nicht der Fall sei. Wir trinken unsere Getränke, schauen uns im Foyer um und sind tatsächlich gemeinsam der Meinung, dass das ein schöner Veranstaltungsort ist. Anschließend finden wir Plätze mit ganz guter Sicht auf der Empore.

Zunächst spielt eine Vorgruppe von 20-Jährigen aus Mainz. „Ähh, wir spielen geilen lauten Punkrock … ehhh, ist das geil das wir hier sind … ist das geil, dass ihr hier seit … oh, wir sind so geil“, eröffnet der Leadsänger, der einen Kopf kleiner als Bassist und Gitarrist neben ihm ist, den Auftritt. Der Typ kann weder singen noch tanzen und seine permanenten Bocksprünge wirken mit den weiten, knielangen Shorts und dem T-Shirt, was über den deutlichen Bauchansatz spannt, eher putzig als cool. Die Vorgruppe spielt etwa eine halbe Stunde, einmal singt der Bassist, der das deutlich besser kann als sein Frontmann, der sich wiederum mit hohlen Sprüchen zwischen den Stücken in Szene setzt. Das scheint aber keine Rolle zu spielen, der Saal jubelt. Am Ende bedauert er noch fünf Minuten, dass sie jetzt diesen „geilen Auftritt“ beenden müssen.

Bei den ersten Takten, die Silbermond anspielen, habe ich das Gefühl aus dem Saal geblasen zu werden. Sie habe die Anlage auf eine deutlich höhere Phonstärke als die Vorgruppe eingestellt. Und die waren schon laut. Das Publikum ist begeistert. Das Reh sucht Tempotaschentücher, um irgendwas Schützendes in die Ohren zu stecken. Nach zwei Stücken geht sie in das Foyer. Ich folge ihr nach weiteren zwei Stücken. Wir sind dort nicht allein, die Empfindlichkeit unserer Ohren scheint keine totale Ausnahme zu sein. Wir trinken an der Theke ein Bier und schwätzen. Die Musik ist auch hier deutlich zu hören. Die Anlage ist leider zu übersteuert, um die Stimme von Stefanie Kloß gut rüberzubringen. Vor zwanzig Jahren hätte ich mich das tierisch geärgert. Ich gehe zwischendurch noch zweimal für eine gute Viertelstunde in den Saal, um ein paar Eindrücke von der Stimmung und der Bühnenshow zu sammeln. Die meiste Zeit bleiben wir aber an der Theke, so dass sich der Konzertbesuch wie ein gemütlicher Kneipenabend gestaltet.

Auf dem Heimweg ist die Luft noch so mild, dass ich bei einer Eisdiele eine Tüte hole. Ich denke laut darüber nach, ob ich als nächstes Karten für „Wir sind Helden“ oder doch die guten alten Jungs von „BAP“ bestellen sollte. Das Reh grinst wieder und macht eine unqualifizierte Bemerkung über eingeschränkte Lernfähigkeit. Irgendwie war der Abend vielleicht anders als erwartet, aber irgendwie war es ein netter Abend zu Zweit.

7Mai
2006

Tage wie dieser

Die Kastanie steht in voller Blüte. Die frisch beblätterten Pappeln geben wieder ihr entspanntes Hintergrundrauschen ab.
EuroTower-0506
Mit frischen Grün und Blüten ist die Höhle umgeben. Sanfte Winde wehen um ihren Eingang und bringen in Böen den Duft von Gegrillten vorbei. Die Sonne verbreitet rund herum eine milde Wärme.

Genau so, könnten die Tage gern öfters sein.

Normalität (30 days - 5)


Kitty’s Frühstück ist Klasse. Natürlich gibt es - wie von mir sehr geschätzt - „Ham and Eggs“. Was würde man auch schon Anderes in diesem Teil der Welt erwarten? Jedenfalls keine selbst gebackenen Brötchen, die beim Hineinbeißen tatsächlich einen angenehmen Bisswiderstand bieten und gemeinsam mit der Waldbeerenmarmelade eine Köstlichkeit sind. Und sicher keinen frisch gebrühten Bohnenkaffee. Aber genau das finde ich auf den liebevoll gedeckten Frühstückstisch, als ich den Gemeinschaftsraum betrat. Kitty fragt mich, ob ich gut geschlafen habe. Ja, das habe ich, wie ein Stein, wie ein rollender Stein, denn die stundelange Fahrt auf der Schotterpiste des gestrigen Tages hat mich noch im Traum begleitet. Ich lobe ihr Frühstück mit Begeisterung und merke, dass sie sich darüber wirklich freut. Mir scheint, sie wird sogar ein wenig rot. Sie verabschiedet sich, um Einkaufen zu gehen. Ich schmökere ausgiebig in dem abgegriffenen „Lonely Planet“ und die Route für die nächsten Tage nimmt Konturen an. Über Alaska- und Cassier-Highway nach Prince Rupert, dann mit der Fähre via Inside Passage nach Süden. So könnte ich es vielleicht in drei oder vier Tagen in mein geliebtes Vancouver schaffe.

Nach dem Frühstück begebe ich mich in den Ort. Dawson City ist wie eine angelsächsische Kleinstadt, deren nächste Nachbargemeinde ein paar hundert Kilometer entfernt ist, eben so ist, nämlich verschlafen. Ich merke wie mich das ein oder andere neugierige Augenpaar verfolgt. Natürlich sind fremde Gesichter hier nichts Ungewöhnliches, dafür lebt der Ort zu sehr vom Tourismus, aber die Saison hat noch lange nicht angefangen und daher falle ich auf. Womöglich hält man mich für einen dieser vereinzelten, von Nostalgie besessenen Irren, die auch heute noch hier herkommen und ernsthaft in den Flüssen und Bächen nach Gold suchen. Am Busbahnhof erfahre ich, dass am Abend ein Bus Richtung Süden losfährt. Das gefällt mir, so kann ich im Schlaf nach Watson Lake kommen. Weniger gefällt mir, dass zwischen Watson Lake und Prince Rupert kein Bus verkehrt. Wenn ich an meinen gerade gefassten Plan festhalten will, muss ich entweder ein Auto mieten oder eines der privaten Reisebüros in Anspruch nehmen.

Ich besuche das Klondike Museum. An Wandtafeln lässt sich die Geschichte des großen Goldrausches nachlesen. Ausgestellt sind alte Schürfwerkzeuge, Schaufensterpuppen sind mit der typischen Kleidung der Goldsucher ausstaffiert und in einer beleuchteten Glasvitrine ist etwas Goldstaub zu bewundern. Das originellste Exponat ist der Museumswärter. Der sitzt auf einen Schemel neben dem Eingang und kratzt sich rhythmisch zwischen den Beinen. Diesen konditionierten Griff an seine Eier stellte er auch nicht ein, als ich mich beim Gehen auf einen fünfminütigen Smalltalk mit ihm einlasse.

Ich geh zurück zu „Kitty’s“. Die Hausherrin ist auch zurück. Sie befragt mich jetzt nach der Notlandung in Inuvic und will wissen, was bei dem Unglück passiert ist. Ich schildere ihr meine Ankunft auf dem amerikanischen Kontinent und erzähle auch von meinen Plan, nach Prince Rupert fahren zu wollen. Es wundert mich fast gar nicht, dass sie einen gewissen Pat in Watson Lake kennt, der zum Wochenende immer geschäftlich nach Stewart fährt. Ich könne bestimmt mit ihm fahren. Das ist typisch für dieses weite Land. Die Menschen leben Hunderte von Kilometer voneinander entfernt und trotzdem existiert ein festgeknüpftes Beziehungsgeflecht. Bevor ich diese neue, sehr praktische Reiseofferte selbst realisiert habe, ist Kitty schon am Telefon. Ich werde dann eigentlich nur noch davon in Kenntnis gesetzt, dass mich Pat morgen früh um halb sieben an der Busstation in Watson Lake empfangen wird und ich dann mit ihm nach Stewart fahren werde. Stewart ist von Prince Rupert etwa 150 Kilometer entfernt, was in diesem Land nicht mehr als ein Katzensprung ist.

Acht Stunden später sitze ich im Greyhound, der auf dem Alaska Highway nach Süden fährt. Gerade neun Reisende verlieren sich in dem dicken Gefährt. Langsam setzt die Dämmerung ein. Ich schaue aus dem Fenster und lasse den Ausblick wie einen monumentalen Film, der mich vollständig gefangen nimmt, auf mich wirken. Breite Täler, wilde Flussläufe und im Hintergrund teils schneebedeckte Gebirgsketten. In meinen Gedanken wiederholen sich die letzten zweieinhalb Tage. Das ich erst zweieinhalb Tage auf Tour bin, kommt mir eigenartig vor. Mir ist, als wäre ich schon viel länger unterwegs. Der Rhythmus Fahrt, Ortswechsel, neue Unterkunft und neue Eindrücke erscheint mir unglaublich normal, geradezu als wäre es eine selbstverständliche Alltäglichkeit. Sogar diese Landung in Inuvic empfindet die innerliche Nachbetrachtung so gar nicht ungewöhnlich. Ich bin vollkommen in meiner Reisenormalität angekommen.

6Mai
2006

Dawson City (30 days 4)


Muri hält das Lenkgrad des Pickups fest umklammert. Seine Augen sind konzentriert nach vorne gerichtet. Die öffentliche Straße von Inuvic nach Dawson City führt zwar endlos geradeaus, ist aber nichts weiter als eine holprige Schotterpiste. Immer wieder erscheinen plötzlich Hindernisse. Geröll, ein Tierkadaver oder ein verdörrter Baumstamm zwingen zu Ausweichmanövern. Muri könnte dreißig sein. Genau lässt sich sein Alter nicht schätzen. Seine indianische Abstammung sieht man ihm an. Er hat eine breite Nase und die großporige Haut seines Gesichts ist bei aller Blässe von anderem Teint als bei uns Europäern. Trotz eines sehr spärlichen Bartwuchses trägt er einen Oberlippenbart. Das scheint bei den Männern hier beliebt zu sein. Schon in Inuvic fiel mir auf, dass viele der Männer ein solches Bärtchen tragen. Muri ist der Neffe meiner Inuvicer Herbergsgeber, der wie angekündigt gestern Abend noch kam, um Ware zu bringen. Er ist nicht sehr gesprächig. Das kommt mir gelegen, denn es ist mit meinem sehr mittelmäßigen Englisch schon sehr anstrengend stundenlange Gespräche zu führen, insbesondere dann, wenn mein Gegenüber wie Muri einen sehr eigenwilligen Dialekt spricht.

Noch Sonjas spontane Reaktion zu dieser Idee im Ohr, hatte ich mich heute früh entschlossen, Muri zu fragen, ob er mich auf seiner Rückfahrt mitnimmt. Ohne zögern stimmte er zu und als ich ihm noch ein paar Dollar für diesen Lift anbot, nahm er die etwas schamhaft, aber offensichtlich gern an. Die Entscheidung auf dem Landweg quer durch das Yukon Territorium an die Westküste zu gelangen, war damit gefallen. Wie sich das im Detail gestalten wird, wird sich noch zeigen. Alte Kindheitserinnerungen an Filme mit Trappern und Goldsuchern gingen mir durch den Kopf. Die Fantasie diesen abgelegenen Teil Kanadas zu bereisen, hatte ich schon lange, jetzt sollte sie ungeplant zur Realität werden. So was nennt man wohl Schicksal. Ich bin noch zu dem Hotel, in dem der Flugcrew und auch Sonjas Reisegruppe untergekommen ist, um mich abzumelden. Der Kapitän hatte natürlich erhebliche Bedenken, wies mich auf Gefahren und Versicherungsschutz hin und riet mir eindringlich auf die angekündigten Wartungs- und Tankflugzeuge zu warten. Kopfschütteln verabschiedete er sich dann von mir. Ich traf am Ausgang erneut Sonja, die gerade mit einem Teil ihrer Gruppe hineinkam. Wir tranken gemeinsam einen Kaffee und tauschten die Email-Adressen. Eine halbe Stunde später stieg ich zu Muri in seinen Pickup.

Jetzt sitze ich schon zehn Stunden neben Muri und bin mittlerweile durch das Schütteln und Rütteln halb betäubt. Der Pickup ist ein robustes Fahrzeug, aber ohne jeglichen Komfort. Gerade haben wir ein Schild passiert, auf dem Dawson City nur noch mit einer zweistelligen Entfernungsangabe aufgeführt war. „About an hour“ murmelt Muri. Ich denke, eine Stunde klingt gut, ist auch egal, da ich mich in einem Zustand befinde, der das Zeitgefühl aufgehoben hat. Eine Stunde, zwei Stunden oder zehn Minuten, es scheint mir nicht unterscheidbar. Zwei Stunden später ist die eine Stunde vorbei. Wir haben Dawson City erreicht, jene Stadt, die für ein Jahr das Zentrum aller Hoffnung dieser Welt war. Das war 1898 beim großen Goldrausch. Nachdem bekannt wurde, dass es in den Jahren zuvor tatsächlich beachtliche Goldfunde um den Klondike River herum gab, kämpften sich 100.000 Menschen durch die Wildnis hierher. Gold gefunden haben die Wenigsten von ihnen und die wirklich ergiebigen Claims waren zu diesem Zeitpunkt schon längst verteilt und ausgebeutet. Zwei Jahre später war der Rausch schon wieder vorbei. Aber selbst Jahrzehnte später gab es vereinzelt beachtliche Funde. Beim Renovieren des Orpheum Theatre wurde in den 1940er Jahren Goldstaub im Wert von $1000 unter dem Fußboden gefunden, wohin er aus den Taschen der Goldsucher fast 50 Jahre vorher gerieselt ist. Auch heute wird in der Gegend noch Gold abgebaut. Daneben ist der Outdoor-Tourismus in den Sommermonaten eine der wichtigsten Einnahmequelle der 2000 Einwohner.

Muri stoppt den Wagen. Er zeigt auf ein Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite und sagt, „You can stay here“. Das große Haus hat an der Frontseite eine große Veranda, die sich über die gesamte Breite erstreckt. Trotz der für die Jahreszeit typischen Temperatur von maximal 5 Grad, ist eine Hängematte aufgespannt. Die Fassaden sind offensichtlich schon lange nicht mehr gestrichen worden. Die matte, bräunliche Farbe blättert an vielen Stellen vom hölzernen Untergrund ab. Über der Eingangstür leuchtet wie ein Fremdkörper der Schriftzug „Kitty’s“ in rosa Buchstaben. Kaum habe ich über drei Stufen die Veranda betreten wird die Tür aufgerissen und eine kräftige Frau mit nicht schätzbarem Alter steht vor mir. „Hey, I am Kitty“, streckt sich mir eine Hand zur Begrüßung entgegen. Offensichtlich hatte mich Kitty schon erwartet. Ich selbst hatte mir bislang keine Gedanken über meine heutige Übernachtung gemacht. Meine Inuvicer Wirtsleute sind mir in diesem Punkt zuvorgekommen und hatten Kitty telefonisch mein Kommen angekündigt. Kitty gehört wie Muri zu dem erweiterten Kreis ihrer Verwandten, die in der Weite des Yukon Territoriums verstreut leben. Kitty betreibt diese einfache Pension, die aus zwei geräumigen Schlafkammern und einem Gemeinschaftsraum besteht. Heute bin ich der einzige Gast. Die Saison in Dawson City fängt frühsten in vier Wochen an. Im Juli und August werden die Unterkünfte zum knappen Gut. Dann erlebt Dawson City seinen alljährlichen kleinen Rausch, wenn überwiegend Outdoor Touristen anreisen, um sich auf die Spuren der Goldgräber zu begeben.

Kitty weist mich kurz in ihr Hostel ein. Bettzeug hier, Getränke da, Klo dort. Sie hat ein burschikoses, aber letztendlich herzliches Wesen. Sie zieht sich schnell wieder zurück. Mir ist das nur Recht. Mein durch die Gravel Road betäubter Körper schreit nach Schlaf. Neben meine Schlafstätte lege ich einen zerfledderten „Lonely Planet“, der im Gemeinschaftsraum lag. Neun Jahre ist das gute Stück alt, aber das macht in dieser Gegend weniger aus, so schnell ändert sich hier nichts. Zum Lesen komme ich nicht mehr, kaum liege ich, falle ich in einen tiefen Schlaf.

5Mai
2006

Degeneriert …

… würde ich meinen körperlichen Zustand zwar nicht bezeichnen, aber mein aller erster Besuch in einem Fitnessstudio war nicht nur interessant, sondern auch ernüchternd. Ich hatte schön länger vor, das Studio, das keine fünf Minuten Fußweg von meiner Wohnung entfernt liegt, auszuprobieren, … so etwa seit drei Jahren. Zeitlich klaffen eben manchmal zwischen Vorhaben und Umsetzung gewisse Lücken. Nach einem bewegungslosen Winter, in dem ein mitbewohnendes Waldtier wiederholt provozierend darauf hinwies, dass bestimmte Körperpartien von mir vor drei Jahren noch etwas „kompakter ausgefallen“ wären, nachdem ich aus dem letzten Urlaub ein eindeutig suboptimales Badehosenfoto mitgebracht habe, kurzum, nachdem ich den Umstand, etwa drei bis vier Kilo in den letzten Jahren zugenommen zu haben, zähneknirschend akzeptieren musste, habe ich also endlich meinen Arsch und den Rest von mir, wieder in Bewegung gesetzt.

Zunächst habe ich nach monatelanger Pause seit Ostern wieder mit dem regelmäßigen Joggen angefangen. Immerhin habe ich es jetzt geschafft, dreimal die Woche die Laufschuhe zu schnüren. Die Frage, ob ich zufrieden bin, auch nach längerem Nichtstun die Puste für eine Stunde Dauerlauf zu haben oder ob ich mich ärgere, dass das Tempo eindeutig nachgelassen hat, habe ich noch nicht so ganz geklärt. Und dann fand ich ein Schnupperangebot zum Frühlingsbeginn des benachbarten Sportstudios im Briefkasten. Entschlossen habe ich einen ersten Termin am Anfang dieser Woche vereinbart.

Als ich zu meinen Fitnesstermin ging, wurde mir am Empfang des Studios freundlich mitgeteilt, wo die Umkleide und der Geräteraum ist und dass mich dort Lea zur Einweisung erwartet. Fünf Minuten später stand ich Lea gegenüber. Lea ist eine kleine, sehr zierliche Frau von Anfang Zwanzig, deren Körper das Wort Fett in den Fremdwörterduden verbannt. Sie begrüßte mich freundlich und ging mit mir zunächst zu einer Theke, um einen Fragebogen zu besprechen. Ich erklärte ihr, dass ich in erster Linie eine Stärkung des Rückens und der Schulterpartie anstrebe, da ich sehr viel vor dem Computer sitze. Außerdem suche ich neben dem Dauerlauf noch ein konditionelles Ergänzungstraining, da ich gern wieder eineinhalb Stunden ohne Qual joggen möchte. Mein Anliegen vielleicht auch zwei oder drei Kilo abnehmen zu wollen, verschwieg ich natürlich gegenüber dieser aparten jungen Frau. Dann setzte sie mich zum Warmwerden für zehn Minuten auf einen dieser Tretesel. Beim Aufwärmen spähte ich erstmal den Raum aus. Sechs oder sieben Besucher waren am trainieren und machten zu meiner Erleichterung nicht den Eindruck, die Megasportler zu sein. Die einzige Ausnahme war eine Frau, die von vergleichbar zierlicher Natur wie Lea war und mit verblüffender Leichtigkeit dicke Hanteln stemmte. Ich fragte mich ernsthaft, wie das angesichts ihrer wirklich filigranen Arme physikalisch möglich ist.

Nach dem Aufwärmen führte mich Lea an eine Maschine, an der man mittels einer Stange über den Kopf Gewichte hochzieht. Sie erklärte mir die genaue Sitzposition, was bei der Haltung zu beachten ist und führte mir die Übung vor. Federleicht sah das bei ihr aus. Drei Durchgänge mit jeweils 20 Zügen empfahl sie mir. Nach dem zweiten Durchgang erkannte sie, dass bei meinem Trainingszustand das Gewicht Sinnvollerweise um fünf Kilo reduziert werden sollte. Mit der nächsten Übung an einer Seilzugmaschine kam ich ganz zu Recht. Umso ernüchternder war jedoch die dritte Station. An einem schwer zu beschreibenden Apparat sollte ich mich aus den Armen heraus aufstützen. Das machte mir auch motorisch Probleme. Es dauert eine ganze Weile bis ich den richtigen Bewegungsablauf gefunden hatte. Lea stellte mir noch drei weitere Übungen als Empfehlung vor, die ich teilweise mit Mühe absolvierte. Abschließend begab ich mich noch auf so ein Gerät, dass eine Laufbewegung simulieren soll. Ich hatte zwar mehr das Gefühl, Rad zu fahren als zu laufen, aber wenigsten ging das relativ mühelos, so dass zum Abschluss doch noch ein kleines Erfolgserlebnis heraussprang.

Am nächsten Tag verspürte ich ein leichtes Ziehen in Körperbereichen, die ich sonst nicht spüre. Dennoch registrierte ich halbwegs froh, keinen echten Muskelkater zu haben. Deswegen bin ich dann am Abend erneut hinüber in das Studio gegangen. Wenn man etwas anfängt, sollte man nicht gleich wieder aufhören. Lea war diesmal nicht da. Der Trainingsraum wurde von einem kleinen aber überaus muskulösen Mittdreißiger betreut. Der scherzte mit drei Typen von ausgesprochener Bodybuilderfigur herum. Oberarme wie Baumstämme, Unterarme wie Scheinshaxen. Meiner Vorstellung von Körperästhetik entspricht das ja nicht so ganz. Die Jungs stemmten, zogen und wuchteten permanent etwa das Vierfache an Gewichten, an das ich mich vielleicht herantrauen würde. Gut gelaunt unterhielten sie sich in ihren Übungspausen, was die besten Eiweißpräparate sind und wann am besten der Muskelumfang zu messen ist. Es ist schon erstaunlich, wie sich Vorurteile bestätigen. Auch die anderen Besucher machten einen ziemlich fortgeschritten Eindruck. Lediglich einer der Übenden war etwas weniger engagiert bei der Sache. Der las meistens Zeitung und unterbrach diese Entspannung lediglich für ein paar sehr kurze Einheiten. Ich absolvierte dann ganz dezent mein Softprogramm, das mir Lea am Tag zuvor empfohlen hatte und war fast ein wenig stolz, ihre Vorgaben in etwa eingehalten zu haben.

3Mai
2006

Inuvik (30 days - 3)


Vor mir steht eine Flasche Heinecken. Die grüne Flasche ist der vertrauteste Gegenstand in dieser ungewohnten Umgebung. Der ausgestopfte Eisbär am anderen Ende des Raumes verdeutlicht, wo ich hier bin. Ich sitze am Tresen im „Back Room“, einer der fünf Kneipen von Inuvik. Inuvik liegt fast 4000 Kilometer nördlich von Vancouver, meinem ursprünglichen Reiseziel. Mittlerweile weiß ich, dass Inuvik der nördlichste Ort Nordamerikas ist, zu dem eine öffentliche Straße führt. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei -9 Grad. Heute war ein sonniger Tag, so dass sich am Nachmittag die Milde des Gefrierpunkts breit machte. Für die nächsten Tage ist vergleichbares Wetter vorausgesagt. Inovic ist eine Retortensiedlung, die irgendwann in den 50ziger des letzten Jahrhunderts als Verwaltungszentrum dieser arktischen Einöde gebaut wurde. Es leben hier Nachfahren der Ureinwohner, Trapper, Polarforscher und einige Geschäftsleute. Vor dreißig Jahren gab es hier einen Öl-Boom, der aber mittlerweile auch Geschichte ist. Der Ort macht heute einen eher verwahrlosten Eindruck.

An einem der Tische sitzt das Paar, was mir auch am Frankfurter Flughafen gegenüber saß. Sie schauen ausdruckslos auf den Tisch. Sie sitzen nebeneinander, nicht gegenüber oder über Eck, so dass sie sich bei Tisch ansehen können. Er stochert lethargisch in den Pommes herum, die vor ihm stehen. Sie reden nicht miteinander, nicht mit anderen, schauen sich nicht an, sitzen da nur. Zu zweit und doch allein, denke ich.

Die Reiseleiterin von der großen Gruppe steht plötzlich in der Eingangstür. Sie scheint es geschafft zu haben, sich ihren Schützlingen zu entziehen. Vorhin nach der Landung auf den Flughafen konnte man Angst bekommen, dass sie von ihrer Reisegruppe erdrückt wird. Eingekeilt von 50 Leibern sollte sie umgehend klären, wann es weitergeht, wo es was zu essen gibt, wo die Klos sind, was das beste Hotel am Ort sei und was der organisiert reisende Tourist noch so wissen will. Ich grüße sie mit einem Kopfnicken. Daraufhin kommt sie auf mich zu und fragt, ob sie sich zu mir setzen könnte. Das finde ich gut, so wie diese Reise anfängt, werde ich die nächsten Wochen noch genügend Gelegenheiten für die Lonley-Cowboy Rolle haben. „Geschafft“, frage ich. „Das kannst Du schriftlich haben, so etwas habe ich noch nicht erlebt“, antwortet sie. Sie bestellt auch ein Heinecken. Kopfschüttelnd schildert sie mir die Wünsche, die einige ihrer Reisenden ihr angetragen haben. Es war ihr tatsächlich gelungen, die gesamte Gruppe in einem einzigen Hotel unterzubringen. Anschließend gab es Beschwerden über die fehlende Minibar oder das nur englische Fernsehprogramm. Nachdem sie ein wenig ihren Frust über die Gruppe abgelassen hat und ich meinerseits meine Verwirrtheit über die Situation bekundet habe, ergibt sich ein ganz gemütliches Schwätzchen. Sonja heißt sie. Sie ist seit zehn Jahren als Reisebegleiterin tätig und hat sich in den letzten Jahren auf Kanada spezialisiert. In Inuvik war sie freilich auch noch nie. Es tut gut, nicht nur über unseren Aufenthaltsort zu reden.

Wir sind also in Inuvik. Ich kann den Ort auf der Landkarte einordnen, was vor fünf Stunden noch nicht der Fall war und ich weiß, wie man hier hinkommt, wenn auch nicht mit Vorsatz. Unbeantwortet ist aber noch die Frage, wie und wann ich hier wieder wegkomme. Auch Sonja ist da noch nicht weiter. Die Reisegesellschaft, für die sie arbeitet, hat ihr zwar mehrfach versichert, dass sie sich intensiv um eine Lösung kümmert, aber mehr bekam sie auch nicht zu hören.

Nach der Landung hatte sich die Anspannung einiger Passagiere entladen, als zwei mit dicken Daunenjacken bekleidete Ranger unsere Pässe zur Einreise kontrollieren wollten. Dies wurde als Unverschämtheit empfunden, man habe es nicht nötig, sich an Orten, an denen man nicht landen wollte, auszuweisen. Ein kleiner, leicht kräftiger Mann mit einem auffällig geröteten Kopf machte den Eindruck, er wolle auf die einen Kopf größeren Ranger losgehen. Einer der Stewardessen gelang es mit Charme die Situation zu schlichten. Anschließend hat der Kapitän zunächst alle Passagiere in einer dieser Blechbaracken zusammengerufen. Er erklärte, dass ein Weiterflug frühsten morgen möglich sei, er jedoch noch keine definitive Aussage treffe könne. Die Betonung lag verdächtig auf „frühsten“. Folglich mussten Übernachtungsmöglichkeiten organisiert werden. Bei Nachttemperaturen von -10 Grad war eine Nacht im Flugzeug keine Alternative. Die Hotelkapazitäten von Inuvic sind aber nicht auf mehrere hundert Besucher ausgelegt.

Mittlerweile hatte sich die unerwartete Ankunft unseres Flugs auch im Ort, der fünf Kilometer von der Landepiste, die hier Airport genannt wird, entfernt liegt, herumgesprochen. Etwa zwei Dutzend Einwohner sind daraufhin mit ihren Pickups gekommen und boten private Quartiere an. Ich entschied mich, bei einem nett wirkenden älteren Ehepaar zu übernachten. Nach einem der jetzt überfüllten Hotels stand mir nicht der Sinn. Zu meiner Überraschung bekam ich in ihrem Häuschen ein richtig gemütliches Zimmer, das früher von ihrem Sohn bewohnt wurde. Sie gaben mir auch einen Schlüssel, weil sie selbst früh schlafen gehen. Bevor ich losging, um im Ort etwas zu essen, unterhielt ich mich ein wenig mit ihnen. Die Beiden betreiben einen kleinen Gemischtwarenladen und leben schon seit über zwanzig Jahren hier. Sie erzählten mir auch, dass am Abend noch ein Neffe von ihnen aus Dawson City kommt, der Ware bringt und morgen wieder zurückfährt. Da kam mir der Gedanke, ob dies nicht eine Möglichkeit ist, schnell ein Stück südwärts zu kommen.

Ich erzähle Sonja von meiner Idee. „Mach das“, sagt sie spontan, „Du hast keine feste Buchungen, bist auf keine Route festgelegt und bis die Fluggesellschaft das Ding hier im Griff hat, können locker vier Tage verstreichen.“ Wir bestellen zwei Heinecken und plaudern noch ein wenig. Langsam spüre ich massiv die Müdigkeit, das Jetlag lässt grüßen. Auch Sonja ist erschöpft. Wir verabschieden uns. Ich kann jetzt unter die dicken Federdecke bei meinen Wirtsleuten kriechen, sie muss noch einmal Präsenz bei ihrer Reisegruppe zeigen, bis auch sie Feierabend hat.
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ich glaube, dies ist...
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rosmarin - 31. Jul, 19:52
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ok.... ich hab in meiner verzweiflung versucht, in...
rosmarin - 23. Jul, 01:05
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